Die Flora und Fauna der Ostfriesischen Inseln

Die Großschmetterlinge
der Ostfriesischen Inseln

(Macrolepidoptera)

Zusammenfassung

In einem auf Literaturdaten und unveröffentlichten Erhebungen basierenden Verzeichnis werden sämtliche bis heute für die Ostfriesischen Inseln nachgewiesenen 404 Arten der "Großschmetterlinge" aufgelistet. Für 376 Arten (32 "Tagfalter", 344 "Nachtfalter") ist von einem aktuellen Vorkommen auszugehen. Dies entspricht Anteilen von 28 % des deutschen und 38 % des niedersächsischen Artenspektrums.
Neben den Angaben für die einzelnen Inseln werden erstmals für die nachgewiesenen Arten auch inselspezifische Habitatpräferenzen angegeben. Die meisten Arten sind in den Sekundärbiotopen der Siedlungs- und Ruderalbereiche zu finden. Außerhalb der Ortschaften werden bevorzugt Küstendünen-Heiden und feuchte Dünentäler besiedelt, spezialisierte Arten scheinen bevorzugt die Primärbiotope zu besiedeln.
Insgesamt wurden 112 bundes- und/oder landesweit gefährdete bzw. vom Aussterben bedrohte Arten (7 Tag-, 105 Nachtfalter) nachgewiesen, die fast ein Drittel des gesamten Insel-Bestandes ausmachen. Weitere 55 Arten der Vorwarnliste belegen, dass die Ostfriesischen Inseln für Großschmetterlinge als wichtiger (Über-)lebensraum anzusehen sind.

Summary

The macrolepidopteran fauna of the East Frisian islands. - Derived from the available records, both published and unpublished, a list of the 404 species of Macrolepidoptera hitherto recorded from the East Frisian islands is presented. 376 species (32 butterfly species, 344 moth species) are considered to be currently occurring on the islands. This amounts to 28 % of all Macrolepidoptera species known from Germany and to 38 % known from Lower Saxony.
For the first time the species' habitat preferences and associations are given by island, in addition to notes on the species' distribution and abundance. Most species are associated with secondary habitats of ruderal and settlement areas. Preferred habitat types outside settlement areas are coastal dune heath and humid dune valleys. Specialist species seem to favour primary habitat types.
112 species (7 butterfly species, 105 moth species) are currently assessed as "vulnerable" or "(critically) threatened" in Germany or Lower Saxony. This amounts to about one third of the islands' total Macrolepidoptera fauna. Further 55 species are listed as "near threatened". These figures underpin the extraordinary importance of the islands as a refuge for the Macrolepidoptera

Was sind... Großschmetterlinge?

Die aus dem Altgriechischen stammende Benennung Lepidoptera (in etwa "Schuppenflügler") ist wesentlich kennzeichnender für diese Insektenordnung als viele der in Mitteleuropa benutzten Trivialnamen. Diesem Namen liegt die Beobachtung zu Grunde, dass die Flügel mit Schuppen bedeckt sind, die wie Dachziegel angeordnet und Träger der Flügelfarben sind. Trivialnamen wie Schmetterling ("Schmantling"), englisch "butterfly" oder niederdeutsch "bottervagel", entstammen wohl eher einer schlechten Naturbeobachtung, nach der Schmetterlinge "Butter schlagen" oder "am Schmant (Sahne) saugen".

Die aus traditionellen Gründen und in der Praxis immer noch vollzogene Unterteilung der Ordnung Lepidoptera in "Groß- und Kleinschmetterlinge (Macro- bzw. Microlepidoptera)" ist wissenschaftlich-systematisch zwar nicht haltbar, wird aber auch hier beibehalten. Insofern werden auch im Folgenden die Familien Hepialidae, Cossidae, Limacodidae, Psychidae, Sesiidae und Thyrididae im Teil Macrolepidoptera behandelt, obwohl sie nach aktuellem Kenntnisstand den Microlepidoptera zugeordnet werden müssten. Von den in Deutschland unter diesen Vorgaben zu zählenden 26 Großschmetterlingsfamilien mit 1.450 Arten (vgl. GAEDIKE & HEINICKE 1999) kommen auf den Inseln Vertreter aus 20 Familien vor; bei den fehlenden Familien handelt es sich um artenarme Gruppen mit zumeist seltenen Arten.

In Niedersachsen wurden 1.065 Großschmetterlingsarten nachgewiesen (LOBENSTEIN 2004), davon sind 77 Arten als ausgestorben und/oder verschollen eingestuft, weitere 32 Arten gebietsfremde Wanderfalter. In der Praxis werden die Macrolepidoptera meist in die "Tag- und Nachtfalter" unterteilt, obwohl weder systematische noch biologisch/ökologische Aspekte dies rechtfertigen: Viele "Nachtfalter" sind z.B. ausschließlich tagaktiv.

Was sind... Tagfalter?

Tagfalter mit den "echten Tagfaltern" (Papilionoidea: Papilionidae - Ritterfalter [6 Arten in Deutschland], Pieridae - Weißlinge [17], Nymphalidae - Edelfalter [92], Lycaenidae - Bläulinge [49]) und den Dickkopffaltern (Hesperidae - Dickkopffalter [25]) kommen in Deutschland mit 189 Arten vor (GAEDIKE & HEINICKE 1999). Sie gehören zu den gefährdetsten Insektengruppen überhaupt: In Deutschland sind 64 % gefährdet oder verschollen, weitere 28 % werden auf der Vorwarnliste geführt (PRETSCHER 1998), landesweit sind es 73 bzw. 8 % (LOBENSTEIN 2004). Tagfalter sind tagaktiv, sie fliegen v.a. bei sonnigem Wetter. Die nur flüssige Nahrung aufnehmenden Imagines sind überwiegend Blütenbesucher oder sie saugen an feuchten Stellen, z.T. auch an Baumsäften, selten an Kot oder Aas. Die phytophagen Raupen sind zum großen Teil auf bestimmte Futterpflanzen spezialisiert.

Was sind... Nachtfalter?

"Nachtfalter" werden traditionsgemäß in die Gruppen Spanner (Geometridae), Eulenfalter (Noctuidae) und in die Sammelgruppe "Spinner und Schwärmer i.w.S." (Hepialidae - Wurzelbohrer [6 Arten in Deutschland], Psychidae - Sackträger [44], Zygaenidae - Widderchen/Blutströpfchen [24], Sesiidae - Glasflügler [35], Cossidae - Bohrer [5], Lasiocampidae - Trägspinner/Glucken [22], Sphingidae - Schwärmer [21], Drepanidae - Sichelflügler [16], Notodontidae - Zahnspinner [35], Pantheidae [3], Lymantriidae - Schadspinner [17], Nolidae - Kleinbären [18], Arctiidae - Bärenspinner [50]) unterteilt. Aus Deutschland sind fast 1250 Arten bekannt (GAEDIKE & HEINICKE 1999), von denen 35 % gefährdet oder verschollen sind und weitere 10 % auf der Vorwarnliste geführt werden (PRETSCHER 1998). Für Niedersachsen werden 921 Arten gemeldet, davon sind 56 % gefährdet oder verschollen, weitere 12 % sind auf der Vorwarnliste zu finden (LOBENSTEIN 2004).

Spanner sind zumeist dämmerungs- und nachtaktiv und relativ schwache Flieger. Zahlreiche gehören zu den sog. Blütenspannern; die Raupen entwickeln sich mono- oder oligophag an Blüten oder Samen verschiedener Kräuter oder Gehölze. Insofern sind die Hauptlebensräume der Spanner blütenreiche Krautsäume, Waldmäntel und Laubmischwälder. Die ebenfalls meist dämmerungs- und nachtaktiven Eulenfalter besitzen ein gutes Flugvermögen. Die Imagines sind vor allem Blütenbesucher und Saftsauger. Die meisten Larven leben phytophag an Gräsern, Wildkräutern oder Laubhölzern; etliche Arten sind Nahrungsspezialisten an Flechten, Pilzen, Laub- oder Nadelhölzern; einige Arten leben räuberisch. Als Lebensräume werden sowohl trockene wie feuchte Offenlandbiotope besiedelt als auch Laubmischwälder, Zwergstrauchheiden oder Moore. Die Spinner und Schwärmer i.w.S. sind als Sammelgruppe ökologisch ausgesprochen heterogen: Es gibt sowohl tagaktive (z.B. Zygaenidae, Sesiidae) als auch nachtaktive Arten. Die Larven sind in erster Linie phytophag; einige leben in Baumstämmen, Wurzeln oder Knollen.

Einleitung

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Der in Niedersachsen vom Aussterben bedrohte Mittlere Perlmutterfalter, Argynnis niobe, ist auf einigen Ostfriesischen Inseln noch präsent (Foto: B. Nannen).

Im Wattenmeer der südlichen Nordsee erstreckt sich eine Kette von Inseln, die als eine der letzten großen Primärlandschaften im nördlichen Mitteleuropa seit 1985 Teil des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer ist. Diese unabhängig von der Festlandsküste entstandenen Ostfriesischen Inseln weisen heute einen Festlandsabstand von minimal 3 bis maximal 11 km auf. Sie können in 7 größere, etwa 3.000 Jahre alte und vom Menschen bewohnte und 4 kleinere, wesentlich jüngere und unbewohnte Inseln unterteilt werden. Die hohe Gestaltungsdynamik im Wattenmeer hat auf den Inseln zur Entwicklung zahlreicher spezieller Küstenbiotope mit einer hohen landschaftsräumlichen Diversität auf engstem Raum geführt (vgl. EGGERS et al. 2008).

Die Fauna der Inselkette wurde erstmalig Ende des vorletzten Jahrhunderts untersucht. Aufgrund ihrer Attraktivität gehörten die Großschmetterlinge zu den anfänglich am besten untersuchten Insektengruppen: Von fast allen großen Inseln existierten bereits Nachweise. Unter besonderer Berücksichtigung der Borkumer Fauna gibt SCHNEIDER (1898) einen Überblick über den damaligen Kenntnisstand. Er konnte bereits über 200 Großschmetterlingsarten für die Inselkette verzeichnen. Bis Anfang der 1990er Jahre konnte fast eine Verdopplung der Artnachweise für Großschmetterlinge verzeichnet werden (BRÖRING et al. 1993).

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Der Gemeine Bläuling, Polyommatus icarus, kommt auf allen Ostfriesischen Inseln vor; er ist wohl der häufigste Bläuling in Niedersachsen (Foto: V. Haeseler).

Im Folgenden wird ein aktualisierter Überblick über die Großschmetterlingsfauna der Ostfriesischen Inseln gegeben, indem die Verzeichnisse bei BRÖRING et al. (1993: 108-113) durch die in den letzten 15 Jahren gewonnenen und z.T. unpublizierten Daten (v.a. von Norderney, Wangerooge, Mellum) ergänzt werden. Die oft sehr alten Meldungen werden kritisch bewertet (z.T. nach Sammlungsüberprüfungen) und auf den neuesten nomenklatorischen Stand (GAEDIKE & HEINICKE 1999) gebracht. Erstmalig werden Daten zur Häufigkeit sowie für alle Arten Angaben zum Auftreten in den jeweiligen Inselbiotopen gemacht. - Die Kleinschmetterlinge werden separat behandelt (KLEINEKUHLE & NIEDRINGHAUS 2008).

Datengrundlage

Die ersten Angaben zu Großschmetterlingen der Ostfriesischen Inseln stammen von Norderney (REHBERG 1880: eine Art). In den folgenden Jahren wurden von fast allen weiteren Inseln Nachweise erbracht: Spiekeroog (HESS 1881: 23 Arten), Borkum (KÖNIG 1882: 100 Arten), Langeoog (TONGERS 1886: 3 Arten), Juist (LEEGE 1889: 111 Arten), Norderney (VERHOEFF 1891: 7 Arten). Durch eine Erhebung der Fauna Borkums meldet SCHNEIDER (1898) 166 Großschmetterlinge. Bereits 205 Arten waren um die Jahrhundertwende von den Ostfriesischen Inseln bekannt (Abb. 1).

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Der Mittlere Weinschwärmer, Deilephila elpenor, beeindruckt durch seine Gestalt und Schönheit (Foto: V. Haeseler).

Bei einer neuerlichen intensiven Bestandserfassung der Borkumer Insektenfauna konnten Fritz und Richard Struve in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts 109 Arten erstmals für Borkum und 97 Arten erstmals für die Inselkette feststellen (STRUVE & STRUVE 1936, STRUVE 1939, Sammlungsrevision bei KLEINEKUHLE 1995). Unter Berücksichtigung weiterer Bestandsaufnahmen (v.a. auf den jungen Inseln Memmert u. Mellum; vgl. ALFKEN 1924, 1930) sowie vereinzelter Meldungen verschiedener Sammler konnten bis Mitte des letzten Jahrhunderts 316 Großschmetterlingsarten (35 Tag- u. 281 Nachtfalter) für die Inselkette verzeichnet werden.

Bis 1975 wurden durch Ergänzungen auf Borkum (GROSS 1956) und umfangreiche Erhebungen auf Norderney (MÜLLER 1969, CLEVE 1972, 1974) sowie Einzelmeldungen und Untersuchungen diverser Bearbeiter 50 weitere Arten registriert. Bis zum Beginn der 1990er Jahre waren durch die Auswertung von über 50 Arbeiten insgesamt 379 Arten (40 Tag-, 339 Nachtfalter) bekannt (BRÖRING et al. 1993). - In den letzten 15 Jahren wurden mehrere, z.T. umfangreiche Erfassungen (meist mittels Lichtfang!), auf einzelnen Inseln durchgeführt: auf Mellum von 1994-96 (GERMER 2001), auf Wangerooge 1997 (Kleinekuhle unpubl.), auf Norderney im Jahr 2003 (PAUSCHERT 2005) und erstmalig auf Baltrum im Jahr 2007 (B. Nannen in litt.).

Artenbestand

Insgesamt wurden auf den Ostfriesischen Inseln bis heute 404 Großschmetterlingsarten erfasst (Tab. 1). Bei vielen Nachweisen handelt es sich um alte, z.T. sogar sehr alte Angaben oder um Arten, deren Indigenität auf den Inseln ausgeschlossen werden kann. So wurden 20 Arten als nicht bodenständig eingestuft. Hier handelt es sich um Wanderfalter, die nur in manchen Jahren zu bestimmten jahreszeitlichen Aspekten einwandern wie z.B. Macroglossum stellatarum und/oder um Arten, die zwar nachgewiesen wurden aber nach bisheriger Kenntnis nicht indigen sein können wie z.B. Heteropterus morpheus auf Mellum.

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Tab. 1: Auf den Ostfriesischen Inseln nachgewiesene Großschmetterlinge.

Mit 376 Arten, für die ein jüngerer Nachweis vorliegt oder deren aktuelles Vorkommen aufgrund früherer Meldungen als gesichert oder zumindest als möglich angesehen werden kann, macht das Inselspektrum einen Anteil von 26 % des deutschen und 35 % des niedersächsischen Artenspektrums aus. Bedenkt man, dass in Niedersachsen 77 Großschmetterlingsarten als ausgestorben oder verschollen eingestuft sind, hätte man in Niedersachsen einen derzeitigen Bestand von 988 Arten (vgl. Tab. 5). Die 404 nachgewiesenen Arten der Ostfriesischen Inseln entsprächen dann sogar mehr als 40 % des niedersächsischen und mehr als 28 % des deutschen Artenspektrums (n = 1450, davon 34 Arten der Kategorie 0).

Die Datenlage für die Inselgruppe ist sehr heterogen: Als relativ gut untersucht können die beiden größten Inseln Borkum und Norderney mit 288 bzw. 249 Arten und das wesentlich kleinere Wangerooge mit 173 Arten angesehen werden. Während für Borkum nur historische, größtenteils allerdings überprüfte Daten (vgl. KLEINEKUHLE 1995) vorliegen, sind die Angaben von Norderney zu großen Teilen und von Wangerooge überwiegend aktuell (s.o.). Die im Hinblick auf die Großschmetterlingsfauna wahrscheinlich am besten untersuchte Insel dürfte Mellum sein: Hier wurden durch mehrjährige Lichtfang-Erfassungen (LOBENSTEIN 1988, GERMER 2001) insgesamt 225 Falterarten nachgewiesen, darunter auch zahlreiche wandernde und nicht indigene Arten. Die übrigen Inseln müssen mit ihren vereinzelten und zumeist alten Fundmeldungen als völlig unzureichend untersucht angesehen werden. Aussagen zum tatsächlichen Ist-Bestand der Großschmetterlingsfauna sind zwar spekulativ; es ist aber davon auszugehen, dass die Ostfriesischen Inseln weit mehr als 500 Arten beherbergen.

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Abb.1: Entwicklung der Nachweise für Tag- (schwarz) und Nachtfalter (grau) auf den Ostfriesischen Inseln von 1880 bis 2007.

Bis heute wurden auf den Ostfriesischen Inseln 43 Tagfalter-Arten festgestellt (Tab. 2). Von diesen sind allerdings auf der Inselkette 8 Arten als nicht indigen anzusehen; sie wurden lediglich auf Mellum in Einzelexemplaren gesichtet. Drei weitere in früheren Jahren nachgewiesene Arten dürften ebenfalls nicht (mehr) zum aktuellen Artenbestand gehören. Die übrigen 32 Arten wurden aktuell nachgewiesen oder ihre aktuelle Präsenz gilt als sicher bzw. zumindest als wahrscheinlich. Mit 17 % des deutschen und 27 % des niedersächsischen Tagfalter-Bestandes dürfte damit - obwohl es vergleichsweise niedrige Raten sind - der aktuelle Bestand indigener Arten auf den Inseln bekannt sein.

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Abb. 2: Auf den Ostfriesischen Inseln nachgewiesene Tag- und Nachtfalter.

Für die Nachtfalter ergibt sich eine andere Situation: Die 344 zum aktuellen Bestand zu zählenden Arten repräsentieren Anteile von 27 % des deutschen und 37 des niedersächsischen Spektrums (inklusive Arten der Kategorie 0), also deutlich höhere Raten als die der Tagfalter. Und dennoch ist das Insel-Artenspektrum damit noch nicht vollständig erfasst: Da kaum Erfassungen im Frühjahr und Herbst durchgeführt wurden, fehlen z. B. ubiquitäre Arten wie die Frostspanner oder Vertreter der Noctuidengattung Orthosia. Außerdem wurden erst vier Inseln intensiver untersucht, drei davon in jüngerer Zeit (Norderney, Wangerooge, Mellum). Hierbei wurden allein 17 indigene Arten als Erstfunde für die Inselkette ermittelt.

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Abb. 2: Arten-Anteile (%) der Großschmetterlingsfamilien Deutschlands auf den Ostfriesischen Inseln.

Für die einzelnen Familien zeichnet sich beim Vergleich der Insel-Spektren mit dem jeweiligen deutschen Artenbestand ein sehr heterogenes Bild ab (Abb. 2). Überdurchschnittliche Raten mit jeweils über 40 % weisen die artenarmen Familien der Bohrer, Weißlinge, Schwärmer und Sichelflügler auf. Aber auch die artenreiche Familie der Eulenfalter ist mit fast 35 % gut vertreten. Die geringsten Raten zeigen die Sackträger, Glasflügler, Widderchen und Wurzelbohrer sowie fast alle Tagfalterfamilien. Inwieweit es sich bei diesen unterschiedlichen Werten um tatsächlich verschiedene Kolonisationsraten oder nur um Erfassungsartefakte handelt, müsste eine intensivere, flächendeckende Erhebung klären. Denkbar sind durchaus verschiedene für die Inseln charakteristische Eigenschaften (z.B. verstärkter Windeinfluss, geringer Waldanteil), die zu jeweils besseren oder schlechteren Besiedlungschancen für die einzelne Familie führen können.

Besiedlung der Inselbiotope

Um einen ersten Überblick über die Biotoppräferenzen der Großschmetterlingsarten auf den Inseln zu erhalten, wurden Fundortangaben in ein vorgegebenes Biotopschema (vgl. EGGERS et al. 2008) transformiert. Außerdem wurden Larvalhabitate unter Zugrundelegung der Biotopverteilung der Raupenfutterpflanzen (vgl. METZING et al. 2008) zugeordnet. Da für die einzelnen Pflanzentaxa nur die Schwerpunktvorkommen im Hinblick auf die Inselbiotope angegeben wurden, beziehen sich die so gewonnenen Daten für die Schmetterlinge ebenfalls nur auf Hauptvorkommen, die außerdem wegen der meist fehlenden konkreten Nachweise nur potenziellen Charakter haben. Bei Berücksichtigung nicht nur der Hauptvorkommen wäre v.a. für die Siedlungsbereiche die Zahl der vorkommenden Arten noch deutlich höher. So wird z.B. eine Schmetterlingsart, deren Raupen monophag an der Stieleiche (Quercus robur) auftreten, zwangsläufig dem Biotoptyp Küstendünengebüsch zugeordnet. Sollte diese Schmetterlingsart auf Stieleichen im Siedlungsbereich vorkommen, wird sie nicht diesem Biotoptyp zugeordnet, auch dann nicht, wenn sie ausschließlich dort auf Einzelbäumen vorkommt. Zahlreiche im Siedlungsbereich vertretene Falterarten wurden somit nicht diesem Biotoptyp zugeordnet.

Auch wenn es sich lediglich um einen vorläufigen Überblick über die Biotoppräferenzen der einzelnen Arten handelt, lassen sich bestimmte Tendenzen erkennen: Sehr artenreich ist die Großschmetterlingsfauna im unmittelbaren Siedlungsgebiet (Gärten, Äcker, Parkanlagen) und auf den Ruderal- und Halbruderalflächen (Tab. 3); dies ist im Zusammenhang mit der hohen Pflanzendiversität in diesen Bereichen (vgl. METZING et al. 2008) zu sehen. Neben einigen selteneren und gefährdeten Arten dominieren hier v.a. ubiquitäre Vertreter. 43 der insgesamt 313 in Sekundärlebensräumen (mit starkem anthropogenen Charakter) erfassten Arten wurden bislang nicht in den Primärlebensräumen nachgewiesen.

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Tab. 3: Verteilung der Großschmetterlinge auf die Biotoptypen der Ostfriesischen Inseln (nur indigene Arten berücksichtig, N = 376).

Die weitgehend naturnahen und vom Menschen relativ ungestörten Primär- Lebensräume beherbergen insgesamt 335 Arten, also nur wenige mehr als die Sekundärbiotope. Vor allem die relativ windgeschützten und floristisch vielgestaltigen Graudünenbereiche mit Trockenheiden, feuchten Tälern und Gebüschen sind artenreich. Die windexponierten und floristisch artenarmen Primär- und Sekundärdünen sowie die Salzwiesen weisen dagegen nur wenige, oft allerdings stark spezialisierte Arten auf. Als Beispiel sei der Asternmönch (Cucullia asteris) genannt, der auf dem niedersächsischen Festland höchstens noch lokal anzutreffen ist und in Niedersachen als vom Aussterben bedroht eingestuft wurde. Etliche auf dem Festland sehr selten gewordene Arten - v.a. unter den Tagfaltern - sind in den Dünen auf allen Ostfriesischen Inseln relativ häufig anzutreffen (s.u.) wie z.B. die in Niedersachsen stark gefährdete Rostbinde (Hipparchia semele). Die gehölzgeprägten Bereiche auf den Inseln sind die Hauptlebensräume für die Gruppe der Spanner und Spinner. Hier sind sie artenmäßig wesentlich stärker vertreten als in den offenen (z.T. windexponierten) Dünenbereichen.

Besondere Arten, Schutz

Trotz z.T. eingeschränkter Besiedlungsmöglichkeiten und ihrer vergleichsweise geringen Größe beherbergen die Ostfriesischen Inseln ein größeres Arteninventar als vergleichbare Festlandsbereiche. Offenbar hängt der Artenreichtum dieser Inseln mit der mosaikartigen Verzahnung von Primär- und Sekundärlebensräumen zusammen.

Außerdem bieten die Inseln einem großen Anteil gefährdeter Arten Überlebensraum (vgl. Tab. 4 u. 5): Es finden sich 28 bundes- und 108 landesweit gefährdete bzw. vom Aussterben bedrohte Arten der Kategorien 1-3 (Tab. 4), bei Verknüpfung beider Listen ergeben die 112 Arten fast ein Drittel (29,6 %) des gesamten Insel-Bestandes.

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Tab. 4: Gefährdete Großschmetterlinge der Ost-friesischen Inseln (nur indigene Arten, N = 376).

Bei zusätzlicher Berücksichtigung der 55 Arten der Vorwarnliste erhöht sich der Anteil auf 45 %. Während von den Tagfaltern lediglich 7 Arten der Roten Liste von Deutschland bzw. Niedersachsen (Kat. 1-3) zum indigenen Insel-Bestand zu zählen sind (= 21,9 %), darunter allerdings zwei landesweit vom Aussterben bedrohte Arten (s.u.), sind es von den Nachtfaltern insgesamt 105 Arten (= 30,3 %).

Die Verteilung der 112 gefährdeten Arten auf die verschiedenen Biotoptypen spiegelt die Verhältnisse der jeweiligen Gesamtspektren (vgl. Tab. 3) wider: Die Biotoptypen mit den meisten gefährdeten Arten (jeweils über 40) sind die Küstendünen-Heiden, die feuchten Dünentäler sowie die Sekundärbiotope Ruderal- und Siedlungsflächen. Insgesamt beherbergen die unter Schutz stehenden Primär-Lebensräume 90 % aller gefährdeten Arten auf den Inseln; lediglich 12 gefährdete Arten kommen exklusiv in den Sekundär-Lebensräumen vor. Ähnlich verhält es sich bei den Arten der Vorwarnliste: Von den insgesamt 55 Arten sind 46 (= 84 %) in den Primär-Lebensräumen präsent und nur 9 zusätzliche in den Sekundärbereichen (Tab. 6).

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Tab. 5: Gefährdete und nicht gefährdete Großschmetterlinge der Ostfriesischen Inseln (OI) und von Niedersachsen/Bremen (NB), angelehnt an LOBENSTEIN (2004) (0 = ausgestorben oder verschollen, 1 = vom Aussterben bedroht, 2 = stark gefährdet, 3 = gefährdet, V = Art der Vorwarnliste, NG = nicht gefährdet, D = Datenlage defizitär od. Status unklar, M = nicht bodenständige, gebietsfremde Wanderfalter).

Von den vielen seltenen und gefährdeten Schmetterlingsarten der Ostfriesischen Inseln sind v.a. die Perlmutterfalter hervorzuheben. Diese Gruppe ist mit insgesamt vier gefährdeten Arten und einer Art der Vorwarnliste auf der Inselkette z.T. in größeren Beständen vertreten: Großer Perlmutterfalter Argynnis aglaja (D/Nds: V/2), Mittlerer Perlmutterfalter A. niobe (2/1), Märzveilchen-Perlmutterfalter A. adippe * (3/1), Braunfleck-Perlmutterfalter Boloria selene (V/2), Kleiner Perlmutterfalter Issoria lathonia (-/V). Die Raupen dieser Falter ernähren sich von Veilchen, die mit insgesamt sechs Arten auf den Inseln (Blütenpflanzen; vgl. METZING et al. 2008) vertreten sind. Über synökologische Zusammenhänge auf den Inseln ist wenig bekannt, abgesehen von einer aktuellen larvalökologischen Untersuchung des Mittleren Perlmutterfalters durch SALZ (2007).

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Tab. 6: Artenzahl gefährdeter Großschmetterlinge der verschiedenen Biotoptypen der Ostfriesischen Inseln.

Unabhängig von der Gefährdungseinstufung ist eine ökologische Gruppe zu nennen, die sich durch extrem hohe Salztoleranz auszeichnet, so z.B. Apamea anceps, Agrotis ripae, A. vestigalis, Hadena trifolii, Euxoa cursoria, E. tritici, Mesoligia literosa, Mythimna favicolor, M. littoralis, M. pallens, Chortodes elymi und Scopula emutaria. Teilweise handelt es sich um Ubiquisten (Hadena trifolii, Mythimna pallens), aber auch um seltene und/oder gefährdete Arten (z.B. M. favicolor). M. favicolor als endemische Art der Nordsee-Salzwiesen (KOLLIGS 1998) wird für Deutschland als gefährdet, für Schleswig-Holstein und Niedersachsen sogar als stark gefährdet eingestuft. In jüngerer Zeit wurde diese Art auf Wangerooge und Mellum nachgewiesen (det. Wegener); auf anderen Inseln dürfte sie ebenfalls zu finden sein. Agrotis ripae mit aktuellen Nachweisen auf Wangerooge und Mellum ist eine halotopophile Art der Küstendünen; in Deutschland ist sie stark gefährdet, in Niedersachen vom Aussterben bedroht.

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Der Kleine Weiden-Glasflügler, Synanthedon formicaeformis, wird leicht übersehen. Seine Raupen leben an Weiden (Foto: V. Haeseler).

Eine weitere bemerkenswerte Art, die weder gefährdet ist noch besondere Sympathien bei der Bevölkerung besitzt, ist der Goldafter Euproctis chrysorrhoea. Zyklisch kommt es auf den Ostfriesischen Inseln zu Massenvermehrungen, Kalamitäten und Konflikten mit Insulanern und Touristen. Die Raupe besitzt lange Haare, die nach Berührung Juckreiz bis starke Allergien auslösen können. Nach jeder Raupenhäutung bleibt eine Hülle mit entsprechenden allergenen Haaren zurück, die durch den Wind verbreitet werden können. Fressfeinde der Raupen gibt es kaum, zu nennen wären z.B. der Kuckuck oder verschiedene Spinnenarten. Die eigentlichen Regulatoren sind Parasiten bzw. Parasitoide wie verschiedene Hymenopteren und der Pilz Entomorpha aulicae (eigene Untersuchungen).

Als positive "kostenlose Landschaftspfleger" wirken auf einigen Inseln die Kaninchen, wenn sie eine bestimmte Populationsgröße nicht überschreiten (Landsäuger; vgl. WALTER & KLEINEKUHLE 2008). Der Reichtum an Tier- u. Pflanzenarten einiger Inseln ist auch im Zusammenhang mit der Wühl- u. Grabtätigkeit der Kaninchen zu sehen, weil dadurch die Diversität gefördert wird und es in gealterten Dünenabschnitten zu neuen Sukzessionsfolgen kommt (HAESELER 1997, KLEINEKUHLE 2007).

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Das Erdeichel-Widderchen, Zygaena filipendulae, ist das wohl häufigste heimische Blutströpfchen. Die Raupen leben am Hornklee (Foto: V. Haeseler).

Es wird deutlich, welche Bedeutung die Ostfriesischen Inseln für den Erhalt auch der gesamtniedersächsischen Artenvielfalt haben. Während auf dem nordwestdeutschen Festland viele naturnahe Lebensräume land- und forstwirtschaftlichen Maßnahmen zum Opfer fielen, blieben die Lebensräume auf den Ostfriesischen Inseln weitgehend erhalten. Es ist zu fragen, inwieweit "Rote Listen" zum Schutz von Arten beitragen. Um den langfristigen Erhalt/Schutz zu gewährleisten, sind die Ökologie zu klären und Maßnahmen zu ergreifen, die mit dem Tourismus aber auch den Interessen der Insulaner vereinbar sind. Verbote bestimmter Nutzungen dienen nicht immer dem Schutz verschiedener Tierarten. Nutzungen, die viele Generationen lang Bestand hatten, wie z.B. die Hellerbeweidung, wirkten sich auf das Vorkommen von Produzenten und Konsumenten verschiedener Organismengruppen nachhaltig aus. Daher ist es sinnvoll zu untersuchen, inwieweit sich z.B. die Artenzusammensetzung der Schmetterlingsfauna beweideter und unbeweideter Salzwiesen unterscheidet und welche Rückschlüsse für den Schutz gezogen werden können.

Bemerkung:

Zwecks Unterscheidung der nah verwandten Arten Argynnis niobe und A. adippe wurden Genitalpräparate von allen aus Sammlungen vorliegenden Tieren angefertigt (siehe hierzu auch Kleinekuhle 1995). Zur Determination wurden die Genitalabbildungen von Ebert (1991) herangezogen. Anhand dieser Abbildungen unterscheidet sich die Juxta im Genitalapparat beider Arten deutlich voneinander. Nach neueren Erkenntnissen muss bei Ebert (1991) ein Präparationsartefakt des männlichen Genitalapparates vorliegen (Dr. R. Maschler pers. Mitt), denn tatsächlich unterscheiden sich die Geniatlapparate beider Arten kaum voneinander. Vor diesem Hintergrund ist es nicht auszuschließen, dass Tiere falsch determiniert wurden und dass ausschließlich A. niobe auf den Ostfriesischen Inseln vorkommt.

Basierend auf einem Artikel von:

Dipl.-Biol. Jens Kleinekuhle
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Stand: 02/2009