Die Flora und Fauna der Ostfriesischen Inseln

Die acalyptraten Fliegen
der Ostfriesischen Inseln

(Diptera: Schizophora, "Acalyptratae")

Aktueller Artenbestand anhand von Literaturdaten, Neufunden und unter Mitarbeit von Fachkollegen

Zusammenfassung

Auf den der nordwestdeutschen Küste vorgelagerten ostfriesischen Düneninseln wurden bislang 515 Arten aus der Gruppe der acalyptraten Fliegen nachgewiesen, darunter 25 nicht binär benennbare Taxa. Bei etwa einem Viertel der Nachweise handelt es sich um z.T. sehr alte , im Einzelfall kritisch zu bewertende Arten. Bei den übrigen Arten wird von einer aktuellen Präsenz auf der Inselkette ausgegangen. Durch umfangreiche jüngere Untersuchungen auf den Inseln Memmert und Mellum gelangen Nachweise von über 300 Arten, zwei Drittel davon erstmals für die Inselkette. Die übrigen Inseln sind mit Ausnahme der größten Insel Borkum unzureichend bis gar nicht untersucht. Die wichtigsten Arbeiten über "Acalyptratae" europäischer Küsten und Dünen werden zusammengestellt.
Obwohl das Verhältnis von Insel-Nachweisen zum gesamtdeutschen Bestand bei den acalyptraten Fliegen mit 27 % als vergleichsweise hoch anzusehen ist, ist von mindestens 100 weiteren Artnachweisen auf den Inseln auszugehen, u.a. aus den bislang unzureichend bearbeiteten artenreichen Familien Sphaeroceridae, Ephydridae, Tephritidae und Conopidae. Aber auch für die gut untersuchten Agromyzidae und Chloropidae sind noch etliche Neunachweise zu erwarten, wie allein die 4 unbeschriebenen, auf Memmert und Mellum gefundenen Agromyziden-Arten der Gattungen Agromyza, Napomyza und Ophiomyia belegen. Auch die Tatsache, dass 8 Arten als Erst-, 4 als Zweitnachweise für Deutschland einzustufen waren, zeigt, dass die Inseln auch zukünftig ein lohnenswertes Ziel für Dipterologen sind.

Summary

The acalyptrate flies (Diptera: Schizophora, "Acalyptratae") of the East Frisian islands. Critical species list by means of literature data, new discoveries, and in cooperation with colleagues. - A total of 515 fly species of the so-called " Acalyptratae" have been recorded from the East Frisian islands along the northwestern coast of Germany. Among them, 25 species could not be identified to species level. About one quarter of the records were partly based on very old data which had to be critically assessed. The remaining species have been confirmed or are thought to be actually present on the chain of eleven islands. Recent extensive studies on the young dune islands Memmert and Mellum revealed more than 300 species of which two thirds were found for the first time on the island chain. Except for the largest island of Borkum, the other islands have been insufficiently or not at all investigated. The most important studies on acalyptrates of European coasts and dunes are cited.
The proportion of species from the islands, compared with the list of "Acalyptratae" from all of Germany, is 27 %. Although this is comparatively high, it is estimated that at least some 100 further species occur on the islands. These predominantly belong to the species-rich but not well-studied families Sphaeroceridae, Ephydridae, Tephritidae, and Conopidae. Several new records can also be expected for the well studied families Agromyzidae and Chloropidae, which is supported by the detection of four undescribed species of leafminer flies of the genera Agromyza, Napomyza and Ophiomyia from the islands Memmert and Mellum. The fact that eight species of acalyptrate flies are first records for Germany demonstrates that the islands are a worthwile destination for dipterists.

Was sind... acalyptrate Fliegen?

Die Fliegen (Brachycera - "Kurzhörnler") besitzen im Gegensatz zu Mücken (Nematocera - "Fadenhörnler") Fühler aus ungleich geformten Gliedern: Ein kleines Grundglied, ein meist kurzes zweites Glied, Sitz eines wichtigen Sinnesorgans zur Wahrnehmung von Schall und Fluggeschwindigkeit, und das sehr verschieden gestaltete dritte Glied. Auf dessen Rücken oder Spitze inseriert eine vorgestreckte vermeintliche Borste, bei der es sich in Wirklichkeit um drei weitere Glieder handelt (ein extrem kurzes, ein kurzes und ein drittes, dünnes langgestrecktes, formvariables). Die höheren Fliegen (Cyclorrhapha = Muscomorpha) zeichnen sich dadurch aus, dass das dritte und letzte Larvenstadium vor der Verpuppung in kurzer Zeit seine Larvenhaut verstärkt und somit ein vor Fressfeinden schützendes "Puparium" bildet, das als z.T. mehrjähriges Dauerstadium das Überleben der Population auch unter ungünstigsten Umweltbedingungen sicherstellt. Im Puparium verpuppt sich dann die Larve, mit Sauerstoff versorgt durch spezielle Atemöffnungen. Bei der höchstentwickelten Teilgruppe, den Schizophora, schlüpft aus diesem "Tönnchen" schließlich die fertige Fliege mit Hilfe einer ausstülpbaren Stirnblase, die dann später "eingeschrumpft" zwischen Fühlerbasis und Stirn eine typische halbmondförmige Bogennaht, die Lunula, hinterlässt.

Obwohl aus phylogenetischer Sicht kontrovers diskutiert (vgl. GRIFFITHS 1972; PAPP & DARVAS 1999; GRIMALDI & ENGEL 2005: 539 gegenüber MCALPINE 1989; OOSTERBROEK 2006) werden die Schizophora aus praktischen und traditionellen Gründen nach wie vor meist in die zwei Subsektionen "Acalyptratae" MACQUART, 1835 und "Calyptratae" ROBINEAU-DESVOIDY, 1830 unterteilt. Den acalyptraten Fliegen fehlt im Gegensatz zu den "Calyptratae" das großflächige Thoraxschüppchen (eine Art "Landeklappe") unter dem Flügelschüppchen der Flügelbasis, die fast vollständige dorsale Quernaht des Thorax, die Furche um die äußere Postalarborste (epa) und mit wenigen Ausnahmen der deutliche Längsspalt an der Außenseite des dritten Fühlergliedes. So viele "Fehl-Merkmale" können kaum alle als gemeinsame Apomorphien für ein begründetes monophyletisches Taxon "Acalyptratae" gelten. Meist handelt es sich um kleine bis winzige, teilweise nur 1 mm große (z.B. Agromyzidae, Braulidae, Carnidae) Fliegen, die nur von wenigen Spezialisten (für meist nur einige Familien) bestimmbar sind. Entsprechend selten werden diese Fliegen trotz ihrer teilweise immensen Populationsdichten und synökologischer Bedeutung (z.T. auch als Schädlinge) in ökologischen Biotopanalysen bearbeitet und bewertet.

Die Lebensweise und ökologischen Ansprüche der Arten der vielen Acalyptraten-Familien sind äußerst verschieden: Die Larven leben terrestrisch oder semiterrestrisch (selten aquatisch) an sämtlichen faulenden oder gärenden Substraten (auch Aas, Exkremente, Urin, Baumsäfte), bzw. an toten und an und in lebenden Pflanzen (Algen, Pilze, Moose, Schachtelhalme, Farne, Blütenpfanzen, Samen, Holz). Pflanzengallen werden von Agromyzidae, Chloropidae, Tephritidae und manchen Lonchaeidae erzeugt. Zahlreiche Arten sind spezialisierte Parasitoide oder Räuber, z.B. gegenüber Blatt- und Schildläusen (Chamaemyiidae), Wurzelläusen (einige Chloropidae), Muscheln sowie Schnecken und deren Eiern (Sciomyzidae, manche Ephydridae) bzw. gegenüber Heuschrecken und Bienen (Conopidae) oder Käfer- und anderen Insektenlarven (z.B. Lonchaeidae, Odiniidae, manche Chloropidae). Schließlich kommen noch Inquilinen in Gallen (Anthomyzidae, Chloropidae), Bienenzellen (einige Drosophilidae) und Bienenwaben (Braulidae) hinzu.

Die Gruppe der acalyptraten Fliegen umfasst in Deutschland insgesamt 51 Familien mit 1.927 Arten (SCHUMANN et al. 1999; SCHUMANN 2002, 2004; weitere Arbeiten und VON TSCHIRNHAUS 2007). Auf den Ostfriesischen Inseln sind 37 der 51 Familien präsent.

Einleitung

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Für Vertreter der Blasenkopf- oder Dickkopffliegen "Conopidae" gibt es auf den Ostfriesischen Inseln nur 3 Nachweise (Foto: V. Haeseler, Holstein).

Die der nordwestdeutschen Küste vorgelagerte ostfriesische Inselkette ist aufgrund der rasch ablaufenden Prozesse im Wattenmeer ein äußerst dynamischer Lebensraum mit einzigartigen Küstenbiotopen. Wohl auch aus diesem Grund erfolgte die erste wissenschaftliche Untersuchung der Fauna bereits Ende des vorletzten Jahrhunderts, als unter besonderer Berücksichtigung der Fauna der größten Insel, Borkum, eine Zusammenfassung des damaligen Kenntnisstandes gegeben wurde (SCHNEIDER 1898).

Seit 1985 sind die größten Teile der insgesamt 156 km² umfassenden Inselflächen Bestandteil des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer. Die etwa 100 km lange Inselkette besteht aus 7 größeren, etwa 3.000 Jahre alten und vom Menschen bewohnten Inseln sowie aus 4 kleineren, wesentlich jüngeren und unbewohnten Inseln. Die zumeist mosaikartige Anordnung verschiedener, oft kleinflächiger Biotope führt auf allen Inseln zu einer im Vergleich zu den meisten festländischen Bereichen hohen landschaftsräumlichen Diversität auf engem Raum und damit zu einem hohen Lebensraumpotential für Tierartengemeinschaften.

Im Folgenden wird ein Überblick über den Kenntnisstand der Fauna der acalyptraten Fliegen (Brachycera, Schizophora "Acalyptratae") auf den Ostfriesischen Inseln gegeben. In Fortsetzung der ersten Zusammenstellung in BRÖRING et al. (1993: 129-134) wurden die alten Meldungen z.T. neu bewertet und ggf. kritisch kommentiert. Sämtliche Familienlisten wurden auf den aktuellen nomenklatorischen Stand gebracht. Außerdem gehen für etliche Familien umfassende, bislang unpublizierte Fundmeldungen und auch einige ökologische Daten in die Bestandsverzeichnisse ein.

Der vorliegende Beitrag ist Teil V der Zusammenstellung der Dipteren-Fauna der Ostfriesischen Inseln: Teil I: Mücken (Nematocera): NIEDRINGHAUS (2008), Teil II: Niedere Fliegen (7 Familien) (Orthorrhapha): BRÖRING & NIEDRINGHAUS (2008), Teil III: Langbein-, Tanz- und Raubrennfliegen (Empidoidea): MEYER & SCHLEPPEGRELL (2008), Teil IV: Schwebfliegen und verwandte Gruppen der Cyclorrhapha Aschiza, Teil VI: Calyptrate Fliegen: BRÖRING (2008 a, b).

Datengrundlage

Bereits um die Wende des vorletzten Jahrhunderts konnten über 600 Dipteren-Arten für die Inselkette nachgewiesen werden, darunter fast 500 von Borkum (SCHNEIDER 1898). Von diesen gehören ca. 120 Arten zur Gruppe der Acalyptraten. Unter Einbeziehung weiterer Daten und Publikationen von anderen Inseln (z.B. ALFKEN 1891 für Juist; Daten von Verhoeff und Metzger für Norderney; POPPE 1891 u. HESS 1881 für Spiekeroog) beläuft sich die Zahl der damals bekannten Acalyptraten für die Inselkette auf 180 Arten (SCHNEIDER 1898: 116-117, 124-130).

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Die "rätselhaften Schwärme" (vgl. PONT 1987) von Sepsis fulgens, ein Symbol für die unerschöpflichen Individuenzahlen der acalyptraten Fliegen (Foto: M. von Tschirnhaus, auf Lindenblatt, Sieversdorf bei Preetz, Holstein).

Bei einer neuerlichen eingehenden Bestandserfassung der Borkumer Insektenfauna konnten F. und R. Struve in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts weitere 300 Dipterenarten, darunter über 80 Neufunde von Acalyptraten feststellen (STRUVE 1939). Im gleichen Zeitraum wurde die Insektenfauna der beiden jungen Inseln Memmert (ALFKEN 1924) und Mellum (SCHUBART & SACK 1924, ALFKEN 1930) detailliert untersucht, wodurch für die Acalyptraten ca. 30 weitere Arten erstmals für die Inselkette festgestellt wurden. KABOS (1942) hat die Artenzahlen aus den meisten dieser Arbeiten einander gegenübergestellt. In einer Reihe von Arbeiten wurde die Fliegenfauna (einschließlich von "Acalyptratae") der deutschen Küsten umfänglich behandelt (CASPERS 1942; KARL 1930; KRÖBER 1937, 1949, 1950, 1956, 1958; BRAUNS 1949a, 1949b; HILDEBRANDT 1990).

Auf den niederländischen Nordseeinseln wurden vielfach ökologische und faunistische Studien an einigen "Acalyptratae" durchgeführt, z.B. von KABOS (1951, 148 Arten; 1954) und VAN HEERDT & MÖRZER BRUYNS (1960, 15 Arten). Eine Artenliste für Dünen in Belgien findet sich bei GOETHGEBUER (1928, 36 Arten), für Frankreich bei TSACAS (1959). Die umfänglichste Studie über die Dünenfauna am Meer wurde überwiegend im Südwesten Schwedens von ARDÖ (1957, 262 Arten) durchgeführt, nachdem schon RINGDAHL (1921) im selben Gebiet eine Artenliste für Küstendünen erstellt hatte. Auch die klassische Küstenarbeit von KROGERUS (1932) verzeichnet viele "Acalyptratae". Arbeiten über die Küstenfauna spezifischer Familien erschienen für Ephydridae von DAHL (1959), für Agromyzidae und Chloropidae von VON TSCHIRNHAUS (1981), für Chloropidae der Ostseeküste von WENDT (1993).

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Ein typisches Fliegentönnchen (Puparium) einer grasminierenden Agromyzide (Liriomyza flaveola) (Zeichnung: M. Stöckmann, verändert n. VENTURI 1940).

Von 1940 bis Mitte der 1980er Jahre wurden im Hinblick auf acalyptrate Fliegen keine systematischen Bestandserhebungen auf den Ostfriesischen Inseln mehr durchgeführt, wenn man von einer Arbeit auf Spiekeroog, in der die Dipterenfauna des dortigen Müllplatzes untersucht wurde (KÜHLHORN 1981), absieht. Neuerdings widmet sich Stuke der Fauna Niedersachsens und Bremens und hat erratische Aufsammlungen auf vielen Ostfriesischen Inseln in seine faunistischen Listen aufgenommen (STUKE 2003, 2005, 2006, 2007; STUKE & MERZ 2004, 2007).

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Die etwa 2,7 mm große Agromyzide Phytomyza wahlgreni (hier: Weibchen); entwickelt sich in vergallten Blattrippen-Minen vom Löwenzahn und Herbstlöwenzahn (Taraxacum, Leontodon) (Zeichnung: M. Stöckmann, Original).

Da das den alten Meldungen zugrunde liegende Material größtenteils nicht mehr überprüft werden konnte, wurden die Angaben kritisch bewertet. In den meisten Fällen ist jedoch von einer richtigen Artdiagnose - auch nach heutigem taxonomischen Wissensstand - auszugehen. Oskar Schneider hatte mit A. Kuntze und W. Schnuse aus Dresden sowie B. Lichtwardt und L. Oldenberg aus Berlin namhafte Spezialisten für Fang und Determination gewonnen. Richard Struve verzeichnet in seinen persönlichen Notizen (archiviert im Landesmuseum Münster) nicht weniger als 17 Spezialisten für die Determinationsarbeit, wobei die Koordinierung O. Kröber (Hamburg), übernahm: L. Czerny (Kremsmünster./Ös-terreich), O. Duda (Gleiwitz/Schlesien), O. Engel (München), Feuerborn (Münster), M. Goethgebuer (Gent/Belgien), H. Hedicke (Berlin), M. Hennig (Leipzig), M. Hering (Berlin), O. Karl (Stolp/ Pommern), F. Lengersdorf (Bonn), O. Meder (Kiel; nur Blattminen), O. Parent (Aire sur le Lys/Frankreich), F. Peus (Berlin), M. P. Riedel (Frankfurt a. O.), P. Sack (Frankfurt a. M.), H. Schmitz (Valkenburg).

Im Zeitraum 1984 bis 1987 wurden im Rahmen eines größer angelegten Projektes zum Kolonisationsgeschehen auf den jungen Inseln Memmert und Mellum (HAESELER 1988) mittels verschiedener Methoden auch die acalyptraten Dipteren systematisch erfasst. Ein Teil des z. T. sehr umfangreichen Materials wurde jeweils in Einzelbeiträgen publiziert:

Das zugehörige Belegmaterial befindet sich in der Biologischen Sammlung der Universität Bielefeld und soll später weitgehend an die Zoologische Staatssammlung München überführt werden.

Für folgende Familien wurde unveröffentlichtes Material (insbesondere aus dem oben genannten Dipterenmaterial von Memmert/Mellum) ausgewertet und in die Artenverzeichnisse aufgenommen:

Vorläufiger Artenbestand auf der Inselkette

Auf den Ostfriesischen Inseln wurden bislang 515 Arten aus der Gruppe der acalyptraten Fliegen nachgewiesen (Tab. 1 und 2), darunter 25 nicht binär benennbare Taxa. Bei 25 % der Artnachweise handelt es sich um alte bis sehr alte Meldungen (vielfach vor 1900), die betreffenden Arten dürften aber in den allermeisten Fällen auch heute noch zum indigenen Artenbestand der Inselkette zählen. Sie rekrutieren sich überwiegend aus den seither nicht mehr bearbeiteten Familien Chamaemyiidae und Ephydridae.

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Tab. 1. Artenzahlen der auf den Ostfriesischen Inseln nachgewiesenen acalyptraten Fliegenfamilien.

Die aktuellen Funde stammen in erster Linie von den gründlich studierten jungen Inseln Memmert und Mellum, auf denen kaum schattige und noch weniger limnische Habitate zu finden sind, beides bevorzugte Aufenthaltsorte von "Acalyptratae".

Die als verlässlich eingestuften Arten repräsentieren einen Anteil von 27 % der entsprechenden deutschen Fauna (N = 1.927, s.o.). Es liegt auf der Hand, dass die vorliegenden Daten nur einen Teil der tatsächlich auf der Inselkette etablierten Arten umfassen: Vertreter von 14 in Deutschland präsenten Familien wurden bis heute überhaupt noch nicht auf der Inselkette nachgewiesen, wobei es sich allerdings zumeist um in ganz Deutschland artenarme Gruppen meist seltener, Schatten und Wald liebender Arten handelt. Die einzige weitere zu erwartende Familie in offenem Gelände ist die der Periscelididae mit drei seltenen Stenomicra-Arten. Sie wären in Feuchtigkeit liebender Vegetation von Tümpeln mit Seggen (Carex), Binsen (Juncus) oder Doldenblütlern (Apiaceae) zu suchen. Alle drei Arten sind erst seit kurzem von von Tschirnhaus und von Kassebeer in Deutschland nachgewiesen (VON TSCHIRNHAUS 1999; MERZ & ROHÁČEK 2004). Als Larvalsubstrat vermute ich Phytotelmata (Regenwasseransammlungen) mit Mikroorganismen in Blattachseln, beispielsweise denen von Angelica silvestris (Engelwurz). In gestrüppartig dichten aufgewachsenen Pappelwäldchen der Dünentäler der alten Ostfriesischen Inseln wird man mit Farbschalen oder Malaisefallen oder durch Exhaustieren an Baumwunden mit gärendem Saftfluss auch noch Vertreter der fehlenden Familien nachweisen können.

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Tab. 2: Auf den Ostfriesischen Inseln nachgewiesene Arten acalyptrater Fliegen, ohne zweifelhafte Meldungen.

Die Fauna von 20 der 37 Familien kann als relativ gut untersucht angesehen werden: Bei ihnen beträgt das Verhältnis Inselfauna zur gesamtdeutschen Fauna über 30 % (wie bei nachweislich intensiv untersuchten anderen Insektengruppen auch, vgl. z.B. NIEDRINGHAUS et al. 2008: Zikaden). Bei folgenden Familien liegt das Verhältnis Inselfauna zur gesamtdeutschen Fauna sogar über 50 % (in Klammern jeweils das Artenanzahlverhältnis Inseln/Deutschland):

Die größten Erfassungslücken bestehen bei den Familien, die nicht im Rahmen der jüngeren Untersuchungen auf den jungen Inseln Memmert und Mellum (s. nächstes Kapitel) bearbeitet werden konnten: Conopidae, Chamaemyiidae, Ephydridae, Sphaeroceridae und Tephritidae.

Das mittlere Verhältnis von Inselfauna zur gesamtdeutschen Fauna ist bei den Acalytraten mit 27 % im Vergleich zu den anderen Dipterengruppen am höchsten (Tab. 3); lediglich für die Calyptraten liegt der Wert mit 20 % annähernd gleich hoch (vgl. BRÖRING 2008).

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Tab. 3: Auf den Ostfriesischen Inseln nachgewiesene Fliegen im Vergleich zum gesamtdeutschen Bestand.

Insofern ist für die Gruppe der "Acalyptratae" bei Veranschlagung einer Verhältnisrate von 30-40 % - wie für "nachweislich" gut untersuchte Insektengruppen festgestellt - von insgesamt 600 bis 700 Arten auf der Inselkette auszugehen.

Diese hohen Artenzahlen sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass gerade bei den "Acalyptratae" noch zahlreiche unbeschriebene Taxa in Deutschland zu erwarten sind: Allein für die Familie der Agromyzidae lagen 1999 noch mindestens 101 [jetzt 103] unbeschriebene Taxa aus Deutschland (18,3% der bis dato bekannten Fauna) vor (VON TSCHIRNHAUS 1999). Auch unter dem Material der jungen Inseln Memmert und Mellum aus den 1980er Jahren fanden sich neben 122 binär benennbaren Arten 4 unbeschriebene (VON TSCHIRNHAUS 2007).

Artengemeinschaften der jungen Inseln Memmert und Mellum

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Tab. 4: Bis auf Familienniveau bestimmte Individuen des Farbschalenmaterials von Memmert und Mellum aus den Jahren 1984 + 1995 (Einzelheiten vgl. VON TSCHIRNHAUS 2007).

Im Rahmen eines größer angelegten Forschungsprojektes zur Besiedlung der jungen Nordsee-Düneninseln Memmert und Mellum durch Arthropoden in den Zeiträumen 1984-86 (HAESELER 1988) und 1994-95 (vgl. ROSE 2001) wurde mittels umfangreicher Probennahme (Barberfallen, Moericke-Farbschalen, Streiffänge) auch die Dipterenfauna untersucht. Die Gruppe der Acalyptraten wurde in der Arbeitsgruppe in Bielefeld bearbeitet und bereits in Teilen publiziert. Im Mittelpunkt der Bearbeitung stand das sehr umfangreiche Material aus Gelb- u. Weißschalen: Aus den Serien der Jahre 1985 und 1994 wurden insgesamt über 245.000 Individuen bis zum Familienniveau bestimmt (Tab. 4, vgl. VON TSCHIRNHAUS 2007).

Unter Einbeziehung von Material aus 218 Kescherfängen wurden auf diese Weise insgesamt über 300 Arten (220 von Memmert, 244 von Mellum) aus 25 Familien nachgewiesen (Tab. 5). Bei über zwei Dritteln handelte es sich um Erst-Nachweise für die Inselkette.

Acht Arten aus vier Familien waren Neuzugänge zur deutschen Checkliste (VON TSCHIRNHAUS 2007).

Agromyzidae

Chloropidae

Chyromyidae

Lauxaniidae

Anthomyza paraneglecta Elberg,1968 (Anthomyzidae), Siphunculina nidicola Nartshuk, 1971, Meromyza rohdendorfi Fedoseeva, 1974 (Chloropidae) und Geomyza balachowskyi Mesnil, 1934 (Opomyzidae) wurden vom Autor (VON TSCHIRNHAUS 2007) zum zweiten Mal für Deutschland gemeldet.

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Tab. 5: Auf Memmert und Mellum in den Jahren 1984 und 1995 durch Weiß- u. Gelbschalen bzw. Kescherfänge festgestellte Acalyptrate Fliegen (Einzelheiten vgl. VON TSCHIRNHAUS 2007).

Resumee

Die umfangreichen Untersuchungen auf den beiden kleinen und jungen Inseln Memmert und Mellum zeigen exemplarisch, welch hoher Artenbestand allein schon dort ermittelbar war. Sogar Neunachweise für Deutschland konnten erbracht und unbeschriebene Arten aufgefunden werden. Eine Anzahl neuer ökologischer Daten und Vergleiche ließen sich auf dem Familien- und Artniveau ermitteln (VON TSCHIRNHAUS 2007). Die alten und großen bewohnten Ostfriesischen Inseln mit ihrem natürlichen und in den Siedlungsbereichen angepflanzten Strauch- und Baumbestand, ihren Heideflächen und Dünentälern, ihrem Gartenland, Weidevieh, Hafenanlagen und auch Mülldeponien lassen entsprechend noch viel höhere Artenzahlen erwarten.

Mit 270 bzw. 271 nachgewiesenen "Acalyptratae"-Arten (von 515 auf der Inselkette) sind Memmert und Mellum die faunistisch am besten untersuchten Inseln, während Wangerooge mit nur 11 nachgewiesenen Arten noch äußerst dürftig erfasst ist. Nachdem in einer früheren Studie (VON TSCHIRNHAUS 1981) die nordfriesische Küste vorwiegend im Salzwiesenbereich gründlich untersucht wurde, können nun unter Hinzunahme von Studien in Dünenbiotopen die Agromyzidae und Chloropidae als die bestuntersuchten "Acalyptratae" an der Grenze Land-Meer gelten (ebd.). Die Vorarbeiten für die faunistische und synökologische Bearbeitung weiterer Familien durch die jeweiligen Spezialisten sind bereits vom Autor durch die Sortierung umfänglichen Materials geleistet worden.

Basierend auf einem Artikel von:

Dr. Michael von Tschirnhaus
Biologische Sammlung
Fakultät für Biologie,
Universität Bielefeld
Postfach 100 131
D-33501 Bielefeld
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Unter Mitarbeit von Irina Brake, Markus Mansard-Veken, Bernhard Merz, Jan-Willem van Zuijlen, Rolf Niedringhaus, Frank Püchel-Wieling und Jindřich Roháček.

Impressum

Copyright © by M. Bretfeld 2009
Stand: 02/2009