Die Flora und Fauna der Ostfriesischen Inseln

Die Zikadenfauna
der Ostfriesischen Inseln

(Hemiptera: Auchenorrhyncha)

Zusammenfassung

Auf den der norddeutschen Küste vorgelagerten Ostfriesischen Inseln wurden 193 Zikadenarten nachgewiesen, von denen 192 zum aktuellen Artenbestand zu zählen sind. Diese entsprechen 31 % der deutschen und 43 % der niedersächsischen Zikadenfauna. Die Artenzahlen der einzelnen Inseln liegen zwischen 153 und 71. Die artenreichsten Inselbiotope sind die xerothermen Grasfluren der Graudünen und die feuchten Dünentäler. Etwa 20 % der Zikadenfauna der Inselkette – v.a. Besiedler angepflanzter Gehölzarten - gehören nicht zum ursprünglichen Inventar. Der Anteil von 41 in Deutschland gefährdeten Arten zeigt, dass die Inselkette zu Recht den hohen Schutzstatus eines Nationalparks genießt.

Summary

The leafhopper fauna of the East Frisian islands (Hemiptera: Auchenorrhyncha). – A total of 193 leafhopper species have been recorded from the East Frisian islands. 192 species are considered to be currently occurring on the islands. This amounts to 31 % of all leafhopper species known from Germany and to 43 % known from Lower Saxony. Species numbers recorded from single islands range between 153 and 71. The richest island habitats are xerothermic grey dune grassland habitats and humid dune slacks. Not native to the chain of islands are some 20 % of the leafhopper fauna that are mostly associated with introduced shrubs and trees. The occurrence of 41 species listed as endangered in Germany shows that the chain of islands was rightly awarded the top protection status of National Park.

Was sind... Zikaden?

Zikaden sind als Pflanzensaftsauger in allen terrestrischen Lebensräumen zu finden. Sie besiedeln den gesamten Feuchtegradienten vom Gewässerufer bis hin zum Trockenrasen sowie fast den gesamten Sukzessionsgradienten von Ruderalbereichen bis zum naturnahen Hochwald. Hohe Artenzahlen zeigen neben Waldbiotopen v.a. Offenlandbiotope mit artenreicher Grasvegetation. Zikaden sind in allen Straten zu finden, wobei die meisten Arten in der Krautschicht leben. Zikaden zeigen eine enge Bindung an ihre Wirtspflanzen, die als Nahrungsressource, als Eiablagesubstrat und als Medium für die intraspezifische Kommunikation dienen. Von den in Deutschland vorkommenden 619 Arten (NICKEL & REMANE 2003, BIEDERMANN & NIEDRINGHAUS 2004) sind ca. 60 % mono-, ca. 25 % oligo- und nur ca. 15 % polyphag.

Zikaden vollziehen ihre Entwicklung vom Ei über 5 Larvenstadien bis zur Imago in ein und demselben Lebensraum, wenngleich des öfteren ein Stratenwechsel im Verlauf der Entwicklung vorgenommen wird. Die Populationsdichten sind im Vergleich zu denen anderer Arthropodengruppen zumeist sehr hoch. Etwa zwei Drittel der Arten hat in Deutschland in der Regel eine, die restlichen Arten zwei Generationen, wenige bei günstigen Verhältnissen auch drei. Längere Lebenszyklen als ein Jahr (durch z.T. mehrjährige Larvalentwicklung) zeigen 9 Arten. Die Überwinterung erfolgt artspezifisch als Ei (ca. 65 %), als Larve (ca. 20 %) oder als Imago (ca. 15 %).

Allgemein bekannt sind Zikaden vor allem durch ihren Gesang, der allerdings nur von den Singzikaden (in Deutschland drei Arten) für das menschliche Gehör wahrnehmbar ist. Die Gesänge der übrigen heimischen Arten werden nicht über die Luft, sondern als Vibrationssignale über schwingende Pflanzenteile verbreitet. Dies geschieht auf eine im Tierreich einzigartige Weise: Verstärkte Teile des Hinterleibs werden durch Muskelzug eingebeult und schnellen anschließend zurück, sodass ein knackendes Eindellen und Zurückspringen die Folge ist (sog. „Blechdoseneffekt“). Es können Vibrationssignale zur Partnersuche und -erkennung sowie Schreck-, Rivalitäts- und Paarungslaute unterschieden werden.

Die auffälligste Fortbewegung der Zikaden ist das Springen. Dazu sind die Hinterbeine meist speziell geformt. Größere Distanzen werden nur durch Flug überwunden. Für viele Arten ist ein Flügeldimorphismus charakteristisch. Es finden sich langflügelige (makroptere) und kurzflügelige (brachyptere) Formen innerhalb einer Art, meist sogar innerhalb einer Population, wobei das Verhältnis durch Umweltfaktoren gesteuert sein kann. Die meisten Arten, zumindest die langflügeligen Formen, sind aktiv flugfähig. Größere Distanzen werden aber meist passiv durch Windverdriftung zurückgelegt.

Einleitung

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Die Punktierte Graszirpe Arocephalus punctum, eine etwa 3 mm große Kleinzikade, ist auf allen Inseln verbreitet; sie lebt in den trockenen Tertiärdünen an verschiedenen feinblättrigen Süßgräsern (Foto: E. Wachmann).

Die ostfriesische Inselkette hat sich aufgrund rasch ablaufender Prozesse im Wattenmeer zu einem äußerst dynamischen Lebensraum mit sehr hoher landschaftsräumlicher Diversität entwickelt. Als eine der letzten großräumigen Primärlandschaften im nördlichen Mitteleuropa mit zahlreichen speziellen Küstenbiotopen wurde sie 1985 als Teil des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer ausgewiesen. Die zumeist mosaikartige Anordnung verschiedener, oft kleinflächiger Biotope auf engem Raum führt auf allen Inseln zu einer im Vergleich zu den meisten festländischen Bereichen hohen landschaftsräumlichen Heterogenität (vgl. EGGERS et al. 2008) und damit zu einem hohen Ressourcenpotential für besiedelnde Organismen.

Erste wissenschaftliche Bestandsaufnahmen der Fauna der einzelnen Inseln begannen Ende des vorletzten Jahrhunderts. Eine Zusammenfassung unter besonderer Berücksichtigung der Fauna der Insel Borkum gibt SCHNEIDER (1898). Im Hinblick auf die Zikadenfauna wurden damals bereits 46 Arten für die Inselkette erfasst. Bei einer systematischen Erhebung der Borkumer Insektenfauna konnten F. und R. Struve in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts 106 Zikadenarten, davon mehr als 50 erstmalig für die Inselkette, nachweisen (STRUVE 1939). Ca. 50 Jahre später erfolgten intensive Erfassungen auf den einzelnen Inseln (NIEDRINGHAUS 1991), sodass für diese Insektengruppe ein umfassendes Bild vom Besiedlungsstand vorliegt.

Im Folgenden wird ein Überblick über die aktuellen Artenbestände der Zikaden auf den Ostfriesischen Inseln gegeben, wobei der Schwerpunkt auf den seit der letzten Zusammenstellung (BRÖRING et al. 1993) erhobenen neuen Daten liegt. Neben den Angaben zur Präsenz und Häufigkeit auf den einzelnen Inseln werden auch die inselspezifischen Habitatpräferenzen für die einzelnen Arten dokumentiert.

Datengrundlage und Erfassungsstand

Bis Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts war über die Zikadenfauna der Inselkette relativ wenig bekannt. Lediglich der Artenbestand für Borkum war durch die umfangreichen Aufsammlungen von SCHNEIDER (1898) und STRUVE (1939) gut dokumentiert. Von den übrigen Inseln gab es nur vereinzelte Meldungen.

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Abb. 1: Beziehung zwischen Zikaden-Artenzahl und Inselgröße (in Hektar, ohne Sandstrand bzw. Quellerwatt, vgl. NIEDRINGHAUS et al. 2008) bzw. Habitatdiversität (Hs als Shannon-Wiener-Index entsprechend der Biotoptypenverteilung nach EGGERS et al. 2008).

Im Zeitraum 1982-1988 wurden auf allen Inseln außer Lütje Hörn und Minsener Oog intensive Erfassungen durchgeführt (NIEDRINGHAUS 1991). Es wurden jeweils umfangreiche Streiffang-Serien über die gesamte Vegetationsperiode ausgewertet. Darüber hinaus wurden auf allen Inseln die jeweils wichtigsten Biotoptypen mit Bodenfallen beprobt. In den letzten 10 Jahren wurden einige zusätzliche Funde v.a. von Norderney (Niedringhaus unpubl., Nickel in litt.) sowie von Memmert und Mellum (STÖCKMANN & NIEDRINGHAUS 2004) registriert. Insgesamt ergibt sich für diese Insektengruppe damit ein gutes Bild vom aktuellen Artenbestand der Inselkette.

Aktueller Artenbestand auf den Inseln

Insgesamt wurden bis heute auf den Ostfriesischen Inseln 192 Zikadenarten nachgewiesen; von diesen wurden 10 bei neueren Erfassungen nicht bestätigt, dürften allerdings zum aktuellen Artenbestand zählen. Lediglich eine Art, die offensichtlich in den 50er Jahren auf Wangerooge eingeschleppt wurde (HARZ 1965, 1988) ist verschwunden. Der aktuelle Artenbestand entspricht damit Anteilen von 31 % der deutschen (N = 619) und 43 % der niedersächsischen (N = 446) Zikadenfauna.

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Die Binsen-Schmuckzikade, Cicadella viridis, ist eine in Norddeutschland häufige Art der Feuchtwiesen, wo sie an Juncus und Carex lebt. Die 0,6 bis 0,7 cm großen Männchen sind blau-schwarz, die etwas größeren Weibchen bläulich-grün gefärbt (s. Foto). Auf den Ostfriesischen Inseln kommt Cicadella viridis vor allem in den feuchten Dünentälern und im Grünland vor (Foto: R. Niedringhaus).

Auf den größten und landschaftlich vielgestaltigsten Inseln Norderney und Borkum finden sich mit 153 und 152 die meisten Arten (Tab. 1), auf den jungen und kleinen sowie hinsichtlich ihrer räumlichen Strukturierung wesentlich ärmeren Inseln Memmert und Mellum mit 91 und 71 Arten die wenigsten Zikaden. Die übrigen Inseln weisen mit Artenzahlen zwischen 107 und 119 annähernd gleiche Größenordnungen auf.

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Tab. 1: Aktuelle Artenbestände der Zikaden auf den Ostfriesischen Inseln.

Die Zikaden-Artenzahlen zeigen sowohl einen deutlichen Bezug zur Flächengröße der Inseln als auch zu deren Habitatdiversität. (Abb. 1, vgl. auch NIEDRINGHAUS 1991, 2002). Sehr ähnliche Befunde lassen sich für die verschiedensten Tiergruppen der Inselkette feststellen (z.B. Wanzen, vgl. BRÖRING 2008; Laufkäfer, vgl. PLAISIER & STUMPE 2008; Pflanzenwespen, vgl. RITZAU 2008; Brutvögel, vgl. KAMP & SOHNI 2008). Ein noch größerer Zusammenhang (r = 0,9300**) ergibt sich für die phytophage Gruppe der Zikaden erwartungsgemäß zur Anzahl der Farn- und Blütenpflanzen auf den Inseln (vgl. METZING et al. 2008).

Ein hoher Artenanteil (90 Arten = 47 %) ist auf allen alten Inseln präsent, was mit dem jeweils sehr ähnlichen Habitatangebot (v.a. der Primärlandschaften) zusammenhängen dürfte. Auf der anderen Seite sind 57 Arten nur auf ein oder zwei Inseln präsent, was die Individualität der einzelnen Inseln (v.a. bei Sekundärstandorten) widerspiegelt.

Kolonisationserfolg auf den Inseln

Das Verhältnis von 192 Zikadenarten als erfolgreiche Inselbesiedler zu ca. 250 Arten als potentielle Kolonisten (für die die Habitatvoraussetzungen erfüllt sind) liefert eine sehr hohe Kolonisationsrate von 77 %: Die vergleichsweise hohen Populationsdichten und Reproduktionsraten sowie eine hohe Vagilität v.a. bei größeren Distanzen führt bei Zikaden offensichtlich zu einer raschen (s.u.) und "effizienten" Besiedlung potentieller Habitate.

Bei der Kolonisation liefern bestimmte Eigenschaften offensichtlich Vorteile: So haben sehr eurytope Arten eine Erfolgsrate von 100 %, an Kräutern saugende Arten von fast 90 % (Abb. 2); andere Merkmale dagegen führen zu Nachteilen, so z.B. bei Imaginalüberwinterern und Gehölzsaugern mit nur 48 bzw. 57 %.

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Die Gemeine Blutzikade, Cercopis vulnerata, ist mit ca. 1 cm Länge eine unserer größten und auffälligsten Arten. Sie gehört zur Familie der Schaumzikaden, d.h., die Larven entwickeln sich in Schaumnestern. Cercopis vulnerata ist im Weser-Ems-Gebiet erst seit den 1950er Jahren vertreten und hat die Ostfriesischen Inseln ca. 20 Jahre später erstmals besiedelt. Heute ist sie auf allen Inseln verbreitet und v.a. in Ruderalbereichen sogar häufig (Foto: R. Niedringhaus).

Die Tatsache, dass Arten mit niedriger Dispersionsfähigkeit sogar einen höheren Kolonisationserfolg haben als Arten mit hoher, zeigt, dass die Überwindung von wenigen Kilometern vom Festland zu den Inseln für Zikaden kein Problem darstellt, schon gar nicht bei einem längeren potentiellen Kolonisierungszeitraum.

Faunistische Besonderheiten

Insgesamt 11 Arten sind in Deutschland auf den Küstenraum beschränkt oder haben hier zumindest ihren Verbreitungsschwerpunkt. In den Küstendünen sind dies: Gravesteiniella boldi (in Weißdünen mit Strandhafer), Kelisia sabulicola (in Grau- und Braundünen v.a. mit Carex arenaria), Anaceratagallia frisia (auf Grasflächen im Sanddorn-Holunder- und Graudünenbereich), Psammotettix maritimus (in Vor- und Weißdünen an Strandquecke und Strandhafer). In den salzbeeinflussten Bereichen finden sich: Anoscopus albiger (v.a. in halomorphen Grasbiotopen), Anoscopus limicola (in höheren und tieferen Salzwiesen), Aphrodes aestuarina (v.a. in halomorphen Bereichen), Eupteryx artemisiae (auf Salzwiesen an Strandwermut), Macrosteles sordidipennis (auf höheren und tieferen Salzwiesen), Paramesus obtusifrons (in Brackwasserröhrichten an Strandsimse), Psammotettix putoni (auf Salzwiesen an Andelgras).

Besiedlung der Lebensräume auf den Inseln

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Tab. 2: Verteilung der Zikaden in den verschiedenen Biotoptypen der Ostfriesischen Inseln.

Alle mit Pflanzen bewachsenen terrestrischen Lebensräume auf den Inseln werden von Zikaden besiedelt: Die artenreichsten Biotope sind die xerothermen Graudünen-Grasfluren, die feuchten Dünentäler und die Grünlandflächen auf Marsch (Tab. 2). Die Extrem-Standorte Vor- und Weißdünen sowie die Salzwiesen beherbergen nur jeweils wenige, zumeist stark spezialisierte Zikadenarten.

Die Baumbesiedler sind zwar im Vergleich zu ihren Festlands-Anteilen unterrepräsentiert, dennoch finden sich etliche Arten auf ihren jeweiligen Wirtsbäumen Gerade durch die vielen in den letzten Jahrzehnten in Ortsnähe angepflanzten, standortfremden Gehölze sind im Zuge direkter Einschleppung oder nachfolgender Besiedlung deutliche Erhöhungen der Artenzahlen der besiedelnden Zikaden zu verzeichnen. So sind etwa 20 % der Zikadenfauna der Inselkette auf die durch den Menschen unmittelbar entstandenen Sekundär- und Sonderhabitate beschränkt.

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Abb. 2: Kolonisationsraten für verschiedene Zikaden-„Gilden“.

Die Inseln als schützenswerter Lebensraum

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Tab. 3: Gefährdungssituation der Zikaden auf den Ostfriesischen Inseln.

Neben den 11 Küsten-Spezialisten stehen noch weitere Zikadenarten auf der Roten Liste der gefährdeten Tierarten Deutschlands (REMANE et al. 1998). Insgesamt finden sich auf der Inselkette 22 Arten der Kategorie "gefährdet", 18 Arten der Kategorie "stark gefährdet" und eine Art (Anaceratagallia frisia) der Kategorie "vom Aussterben bedroht" (Tab. 3). Der Anteil der mehr oder weniger stark gefährdeten Arten am gesamten Insel-Artenspektrum liegt demnach bei über 20 %. Hinzu kommen noch 10 Arten der Vorwarnliste.

Die genannten Zahlen belegen, dass die ostfriesische Inselkette einer artenreichen und charakteristischen Zikaden-Artengemeinschaft mit vielen gefährdeten Arten einen (Über-)Lebensraum bietet, dessen dauerhafter Schutz durch den Nationalpark gesichert werden muss. Besonderes Augenmerk ist dabei auf die küstenspezifischen Primärlandschaften der Dünen und Salzwiesen zu legen, um die Beeinträchtigungen durch den Massentourismus und seine Folgen (z.B. Überfremdung durch Arten der anthropogenen Sekundärstandorte) zu minimieren.

Basierend auf einem Artikel von:

Dr. Rolf Niedringhaus
Carl-von-Ossietzky-Universität
Fakultät V, Institut für Biologie u Umweltwissenschaften
D - 26111 Oldenburg
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Stand: 02/2009