Die Flora und Fauna der Ostfriesischen Inseln

Über das Vorkommen von calyptraten Fliegen auf den Ostfriesischen Inseln

(Diptera: Brachycera: Cyclorrhapha:
Schizophora: Calyptratae)

Zusammenfassung

Auf den Ostfriesischen Inseln wurden bislang insgesamt 284 Arten aus der Gruppe der calyptraten Dipteren (Scathophagidae, Anthomyiidae, Fanniidae, Muscidae, Rhinophoridae, Sarcophagidae, Calliphoridae, Tachinidae, Hypodermatidae, Gasterophilidae, Hippoboscidae und Nycteribiidae) nachgewiesen. Die jungen Inseln Memmert und Mellum sowie besonders Borkum sind vergleichsweise gut untersucht, für andere Inseln gibt es z.T. nur spärliche Angaben. Neuere Erfassungen während der letzten ca. 60 Jahre liegen nur ausnahmsweise vor, sodass die Entwicklung des Artenbestandes auch unter den Veränderungen der Landschaftsräume auf den Inseln nur mit Einschränkungen eingeschätzt werden kann. Anzunehmen ist allerdings eine deutliche Zunahme der Artenzahlen auf den Inseln aufgrund der Ausweitung der Siedlungs- und Agrarflächen sowie des zunehmenden Tourismus während der letzten Jahrzehnte.

Summary

On the occurrence of calyptrate flies on the East Frisian islands (Diptera: Brachycera: Cyclorrhapha: Schizophora: Calyptratae). - On the East Frisian islands, 284 species of Calyptratae have been ascertained to date. Scathophagidae, Anthomyiidae, Fanniidae, Muscidae, Rhinophoridae, Sarcophagidae, Calliphoridae, Tachinidae, Hypodermatidae, Gasterophilidae, Hippoboscidae and Nycteribiidae are included in the present survey. While the young islands of Memmert and Mellum and especially Borkum are well-studied, only few records are available from the remaining islands. With a single exception, no surveys were conducted during the past 60 years and, hence, the colonisation process cannot reasonably be assessed in view of the recent changes in structure and availability of habitats on the islands. Nevertheless, species numbers are thought to have increased along with extensions of settlement and agrarian areas and spatial spread of tourism facilities.

Was sind... calyptrate Fliegen?

In Deutschland kommen ca. 1.400 von den weltweit etwa 18.000 beschriebenen calyptraten Fliegen vor (vgl. SCHUMANN et al. 1999 u.a.). Innerhalb der Diptera Brachycera ("Fliegen") werden sie mit den Acalyptratae zu den "Schizophora" zusammengefasst. Diese zeichnen sich durch eine Stirnblase (Ptilinum) aus, die beim Schlupf der Imago ausgestülpt wird und anschließend meist verkümmert, sowie durch eine deutliche, hufeisenförmige Leiste zwischen Stirn und Gesicht (Ptilinalnaht). Fast alle geflügelten Arten haben im Gegensatz zu den Acalyptratae große Flügelschüppchen (Calyptrae) an der Basis der Vorderflügel, die die Schwingkölbchen (Halteren) z.T. verdecken.

Die Biologie und Lebensweiseder Arten ist sehr unterschiedlich. Larven der Magenfliegen leben endoparasitisch im Magen-Darmtrakt von Pferden, die z.T. völlig flügellosen Laus- und Fledermausfliegen ektoparasitisch an Vögeln und Säugetieren bzw. Fledermäusen, Dasselfliegen und Nasenbremsen z.T. in Rachen- und Nasenhöhlen von Säugetieren; viele Arten leben an Aas (Aasfliegen), Dung (Mistfliegen), andere wiederum sind Blütenbesucher (Blumenfliegen), Räuber, Blutsauger (einige "Echte Fliegen") oder leben sapro- und koprophag (Stubenfliege) z.B. in menschlichen Behausungen. Wieder andere sind wenig spezifiziert in unterschiedlichsten Habitaten anzutreffen, z.T. leben die Larven in anderen Bereichen als die Imagines.

Einleitung

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Cynomya mortuorum, die auch Totenfliege genannt wird, ist eine auf den Ostfriesischen Inseln verbreitete und häufige Schmeißfliegenart. Sie besucht gerne Doldenblüten, ihre Larve lebt von Aas (Foto: M. Stöckmann).

Die Gruppe der calyptraten Fliegen umfasst in Mitteleuropa insgesamt 19 Zweiflügler-Familien, von denen Vertreter von 12 Familien aus vier Überfamilien auf den Ostfriesischen Inseln vertreten sind: Muscoidea (Scathophagidae [Dung-, Mistfliegen], Anthomyiidae [Blumenfliegen], Fanniidae, Muscidae ["Echte Fliegen", "Stubenfliegen"]), Calliphoroidea (Rhinophoridae [Asselfliegen], Sarcophagidae [Fleischfliegen], Calliphoridae [Aas-, Schmeissfliegen], Tachinidae [Raupenfliegen]), Oestroidea (Hypodermatidae [Hautdasseln], Gasterophilidae [Magenfliegen]) und Hippoboscoidea (Hippoboscidae [Lausfliegen], Nycteribiidae [Fledermaus-, Spinnenfliegen]) (Einteilung nach SCHUMANN et al. 1999). Bei der ersten Zusammenstellung der Arten (BRÖRING et al. 1993: 134-138) konnten verschiedene Meldungen nicht eindeutig geklärt werden. Ein Teil der Unklarheiten wurde nun durch Hinzuziehung neuerer taxonomisch-systematischer Literatur beseitigt (SCHUMANN et al. 1999, Bearbeitung verschiedener Gruppen in der "Fauna Europaea" [http://www. faunaeur.org/] u.a.); es kann nunmehr ein kritischer Überblick über den derzeitigen Erfassungsstand der calyptraten Fliegen auf den Ostfriesischen Inseln gegeben werden.

Neuere Untersuchungsergebnisse zur Inselfauna aus den letzten ca. 60 Jahren fehlen, abgesehen von einer Arbeit über die Dipterenfauna von Spiekeroog (KÜHLHORN 1981) und einigen Meldungen von Mellum (Püchel-Wieling 2007 in lit.). Die Daten stammen zum großen Teil von Aufsammlungen aus dem vorletzten Jahrhundert und aus den 1920er und 30er Jahren, so dass die Entwicklung des Artenbestandes unter den verschiedenen Veränderungen der Biotopstrukturen bis heute nicht zuverlässig eingeschätzt werden kann. Daher soll im vorliegenden Rahmen nur eine kurze Auswertung hinsichtlich Besiedlungsstand und Vorkommen von Calyptraten in verschiedenen Biotopen der Inseln erfolgen.

Datengrundlage und Erfassungsstand

Über das Vorkommen von Vertretern der hier betrachteten Dipterenfamilien (Calyptratae) auf den Ostfriesischen Inseln liegen die Zusammenstellungen von SCHNEIDER (1898) und KRÖBER (1931-1935, 1949, 1950, 1956, 1958) vor. Die ersten Untersuchungen erfolgten bereits im 19. Jahrhundert auf Spiekeroog (HESS 1881, POPPE 1891), Juist (ALFKEN 1891a, b) und Borkum (SCHNEIDER 1898).

In diesem Zeitraum konnten bereits nachgewiesen werden: für Borkum 138, für Juist 51, für Norderney 57, für Langeoog 14, für Spiekeroog 21 und für Wangerooge 4 sowie für Memmert ebenfalls 4 Arten. ALFKEN (1924, 1930) erfaßte auf den jungen Inseln Memmert und Mellum 120 bzw. 56 Arten.

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Pollenia rudis (Polsterfliege) ist eine auf Borkum, Memmert und Spiekeroog nachgewiesene Schmeißfliegenart, die in Häusern überwintert und deren Larven sich in Regenwürmern entwickeln (Foto: M. Stöckmann).

In den 1930er Jahren sammelten F. und R. Struve auf Borkum auch calyptrate Dipteren; durch diese Untersuchungen konnten weitere 84 Arten für diese Insel angegeben werden (STRUVE 1939). Zusätzlich finden sich in den unpublizierten Aufzeichnungen von F. und R. Struve weitere Angaben zum Vorkommen von Calyptraten auf Borkum (insbesondere nach Aufsammlungen Anfang der 40er Jahre), die bei BRÖRING et al. (1993) noch nicht berücksichtigt wurden. Die gesammelten Tiere wurden im Wesentlichen von O. Kröber bestimmt.

Die einzigen neueren Angaben über Vorkommen von calyptraten Dipteren auf den Inseln liegen von Mellum (Püchel-Wieling in lit., nach Erfassungen 1985 und 1986) und für Spiekeroog vor (KÜHLHORN 1981), wo im Rahmen einer systematischen Untersuchung auf einem Müllplatz unter siedlungsdipterologischen und hygienischen Gesichtspunkten 64 Arten erfasst wurden.

Vorkommen von calyptraten Dipteren auf den Ostfriesischen Inseln

Auf den Ostfriesischen Inseln wurden bislang 280 Arten nachgewiesen (Tab. 1). Hinzu kommen vier sehr zweifelhafte Meldungen, die für die folgenden Auswertungen nicht berücksichtigt werden. Das nachgewiesene Spektrum entspricht damit 19,6 % des deutschen Bestandes. Lediglich die Gruppe der Empidoidea und der acalyptraten Fliegen weisen mit Anteilen von 33 bzw. 27 % (MEYER & SCHLEPPEGRELL 2008, VON TSCHIRNHAUS 2008) höhere Erfassungsraten auf. Insofern dürfte auch bei den calyptraten Fliegen eine Steigerung der Fundmeldungen um mindestens 100 Arten zu erzielen sein.

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Tab. 1: Anzahlen der nachgewiesenen calyptraten Fliegen auf den Ostfriesischen Inseln, ohne zweifelhafte Meldungen.

Der Bearbeitungsstand ist für die einzelnen Inseln sehr unterschiedlich. Durch die Untersuchungen von SCHNEIDER (1898) und STRUVE (1939) ist Borkum vergleichsweise gut untersucht. Die jungen Düneninseln Memmert und Mellum sind ebenfalls gut untersucht (vgl. SCHÜTTE 1906, SCHUBART & SACK 1924), während für Baltrum keine und für Langeoog und Wangerooge nur sehr wenige Angaben vorliegen. Es ist einerseits anzunehmen, dass auch die angegebenen Artenzahlen auf Borkum (und Memmert) nach intensiveren Untersuchungen noch deutlich erhöht werden, andererseits ist es sehr unwahrscheinlich, dass auf den anderen (alten) Ostfriesischen Inseln jeweils weniger als ca. 150 Arten vorkommen, eher deutlich mehr.

Präsenz in unterschiedlichen Biotopen auf den Ostfriesischen Inseln

Ein Großteil der Arten der calyptraten Dipteren kommt mehr (Fanniidae) oder weniger (einige Muscidae) beschränkt auf den Bereich menschlicher Siedlungen vor. Im Übrigen sind parasitisch lebende Arten dort zu erwarten, wo ihre Wirte präsent sind. Besonders für diese Arten ist somit eine Zuordnung zu Biotoptypen begrenzt. Hypodermatiden, Gasterophiliden und Hippobosciden können auf Grünlandflächen oder in offenen Dünenbereichen vorkommen, je nachdem, wo Pferde, Rinder und Schafe gehalten werden. Larven der Tachiniden und einiger Sarcophagiden sind in solchen Biotopen vertreten, in denen die Insektenarten vorkommen, die sie parasitieren. Hinsichtlich anderer Gruppen gilt analog, dass organische Rückstände wie Aas, Abfall oder Losung in verschiedenen Biotopen vorhanden sein können und dadurch eine punktuelle Besiedlung durch entsprechende Arten ermöglichen. Dies gilt etwa für die sapro- und koprophagen Vertreter der Musciden und für die Larven vieler Sarcophagiden, deren Imagines sich von Baumsäften, Fruchtsäften, Pollen bzw. Nektar ernähren.

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Tachina fera wird aufgrund ihres stark bestachelten Hinterleibes auch Igelfliege genannt und ist eine allgemein eher häufige Raupenfliegenart, die aber bislang nur für Spiekeroog gemeldet wurde. Die Larven parasitieren in großen Schmettelingsraupen (Foto: M. Stöckmann).

Demgemäß finden sich calyptrate Fliegen nur ausnahmsweise in den Extremstandorten Binsenquecke-Vordüne inkl. Sandstrand/Spülsaum und Strandhafer-Weißdüne sowie in der Oberen und Unteren Salzwiese inkl. dem Queller-/ Schlickgras-Watt. In blütenreicher Vegetation, besonders am Rande von Gebüschbereichen (Sanddorn-Holunder- und andere Küstengebüsche, Gehölze in feuchten Dünentälern sowie standortfremde Gehölzanpflanzungen) leben viele Anthomyiiden-, Musciden- und Tachiniden-Arten, ebenso in Graudünen-Grasfluren, Heidebereichen und feuchten Dünentälern. Im Grünland und in den verschiedenen Ruderal- und Halb-Ruderalfluren können Vertreter aller hier berücksichtigten nichtparasitischen Formen verschiedener Calyptratenfamilien gefunden werden.

Besiedlung der Ostfriesischen Inseln durch calyptrate Fliegen

Auch für die hier betrachteten Insektengruppen gilt, dass die Vertreter sehr migrationsaktiv sind. Imagines aller Arten sind sehr flugaktiv, und die Isolationsgrad der Inseln ist sicher keine unüberwindliche Barriere für eine erfolgreiche Besiedlung der Inseln.

Die Präsenz endo- oder ektoparasitischer Formen auf den Inseln ist generell abhängig vom Vorkommen der entsprechenden Wirtstiere (bestimmte Vogelarten, bestimmte Säugetierarten wie Pferde, Schafe, Rinder u.a., aber auch Fledermäuse, vgl. Übersicht für Säugetiere in WALTER & KLEINEKUHLE 2008). Die Parasiten von Haustieren bzw. der vom Menschen auf die Inseln verbrachten Tiere (z.B. Cervidae: vgl. ebd.) dürften in der Regel mit diesen Tieren auf die Inseln gebracht worden sein.

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Tab. 2: Artenzahlen der in Deutschland (D) bzw. weltweit vertretenen Familien der calyptraten Dipteren (SCHUMANN et al. 1999, SCHUMANN 2002, 2004) und Anzahl der auf den Ostfriesischen Inseln (OI) nachgewiesenen Arten.

Verschiedene Artengruppen sind des Weiteren nur dann vertreten, wenn menschliche Siedlungen, landwirtschaftliche Betriebe oder auch Mülldeponien und Schutthalden vorhanden sind (vgl. KÜHLHORN 1981). Solche Habitate sind auf allen bewohnten Ostfriesischen Inseln vorhanden. Es ist in diesem Fall durch die positive Bevölkerungsentwicklung, Vergrößerungen der Siedlungsbereiche sowie aufgrund der deutlichen Zunahme des Fremdenverkehrs auf den Inseln für calyptrate Fliegen eher eine Zunahme und Diversifizierung geeigneter Bereiche anzunehmen. Insgesamt ist es somit wahrscheinlich, dass sich die Artenzahlen der calyptraten Fliegen gerade in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht haben.

Der Anteil der auf den Inseln vorkommenden Arten am Gesamtartenspektrum Deutschlands ist für die verschiedenen Familien der Calyptratae, die z.T. unterschiedliche Lebensformen repräsentieren, unterschiedlich (Tab. 2). Die größte Gruppe auf den Inseln ist mit 113 Arten die Familie der Muscidae, gefolgt von den Anthomyidae (52) und den Tachinidae (51).

Beim Vergleich mit den Artenspektren in Deutschland (Abb. 1) zeigt sich, dass die artenreiche Familie der Muscidae mit über 35 % gut untersucht ist, nur übertroffen von der sehr artenarmen Familie der Gasterophilidae. Die größten Erfassungslücken sind bei den artenreichen Familien der Sarcophagidae (13,7 %) und v.a. der Tachinidae (10,2 %) zu erwarten.

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Abb. 1: Anteile der auf der Inselkette nachgewiesenen Spektren der calyptraten Fliegen im Vergleich zum jeweiligen deutschen Bestand.

Die Kenntnisse über den Artenbestand calyptrater Dipteren und das Besiedlungsgeschehen müssen insofern insgesamt als unzureichend angesehen werden. Zur weiteren Analyse sind faunistisch-ökologische Untersuchungen, nicht nur unter siedlungsdipterologischen oder hygienischen sondern besonders unter faunistisch-ökologischen Aspekten erforderlich. Unter Einbeziehung solcher Ergebnisse könnten Berechnungen zur Besiedlungsdynamik und Arten-Flächengrößen-Relation für die einzelnen calyptraten Dipterenfamilien von großem Interesse sein.

Basierend auf einem Artikel von:

PD Dr. Udo Bröring
Brandenburgische Technische Universität Cottbus
Lehrstuhl Allgemeine Ökologie
Postfach 101344
D-03046 Cottbus
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Stand: 02/2009